Menschen sind Primaten. Alle Primaten weisen ein hohes Sozialverhalten auf, alle Primaten leben in einem hierarchischen Sozialgefüge. Primaten, die gegen die Regeln der eigenen Gruppe verstoßen, werden aus der Gruppe verstoßen. Ein echter Tabubruch kann uns also teuer zu stehen kommen und so wiegen wir unseren Freiheitsdrang und die Regeln der Gruppe immer wieder gegeneinander auf. Ein echter Tabubruch ist deshalb meist nicht möglich. Ein echter Tabubruch kann nur dann möglich werden, wenn die Konsequenzen egal sind, wenn wir nichts mehr zu verlieren haben. Ein echter Tabubruch kann fast nur in einer bestimmten Lebensphase entstehen: Kurz vor unserem Tod.Das Theaterkollektiv movingtheatre Köln erforscht in Ihrem Stück Die Wellen der Nacht in meinem Gefieder genau diese Lebensphase. Bringt die Nähe zum Tod eine Freiheit, die das Leben nicht mit sich bringt?
Thomas Hupfer: (movingtheatre Köln) im Gespräch mit dem Orangerie Theater:
„Die Wellen der Nacht in meinem Gefieder“, das klingt sehr nach einem Gedicht. Ist es eine Zeile aus einem Gedicht und erwartet uns Poesie?
„Der Titel „verdichtet“ eine längere Textpassage zu einem Sprachbild und ist in diesem Sinne tatsächlich poetisch. Wir sprechen im Stück allerdings nicht in Versen, Rhythmen oder Reimen und die Kunstform „Gedicht“ spielt für den Theaterabend keine Rolle.
Bei der Erarbeitung des Textes haben wir aber mit authentischem Textmaterial gearbeitet und sehr früh bemerkt, dass wir immer an den Stellen hellhörig werden, wo Ungewöhnliches anklingt, wo in Metaphern, Bildern oder Vergleichen etwas über das Alltägliche hinausweist und assoziative Räume schafft. Das haben wir dann versucht in eine Gesamt-Ästhetik für den Abend zu übertragen, die in großen Teilen in der Tat etwas sehr Poetisches hat.“
Ihr beschäftigt euch mit den existenziellen Themen des Menschen am Ende seines Lebens. Geht es um Sterbehilfe vs. Religiöser Gebote? Ist das der Fokus?
„Der Fokus unserer Auseinandersetzung liegt exemplarisch auf einem Sterbeprozess und stellt damit gleichzeitig wesentliche Fragen nach dem Hier und Jetzt. Jeder Tod ist so einzigartig wie das Leben, das ihm vorausgeht, und folglich erhebt unser kleiner Theaterabend nicht den anmaßenden Anspruch auf irgendeine Form von Allgemeingültigkeit. Wir skizzieren lediglich konkrete Fallbeispiele collagenhaft in künstlerischer Form und wollen so Gesprächs- und Gedankenräume öffnen.
Viel mehr als religiöse Gebote steht dabei der persönliche und gesellschaftliche Umgang mit Sterben und Tod im Vordergrund. Die Haltung zur Sterbehilfe ist dabei ein Teilaspekt, der zur offenen Diskussion steht, speziell nachdem das Bundesverfassungsgericht 2020 den Paragraphen 217 als verfassungswidrig erklärt hat und seitdem alle Versuche, diesbezüglich Rechtssicherheit zu schaffen im deutschen Bundestag gescheitert sind. „
Es geht in dem Stück auch um den Tabubruch. Der Rahmen ist aber so aufgebaut, dass der Tabubruch nur stattfindet, weil der Protagonist kurz vor dem Ende des eigenen Lebens steht. Glaubt ihr, dass echter Tabubruch erst dann möglich ist, wenn wir ohnehin nichts mehr zu verlieren haben?
„Tabubruch ist grundsätzlich jederzeit möglich, hat aber zwangsläufig drastische Konsequenzen zur Folge. Ein wahrer Tabubruch wird mit Ächtung, mit Ausschluss aus einem sozialen Gefüge sanktioniert, zu dem wir uns bis dahin zugehörig fühlen konnten. Ein solcher Verlust ist enorm, kommt in seiner Urform einer als tödlich empfundenen Bedrohung nah und bedeutet ein Risiko, das niemand leichtfertig eingehen wird. Das Überschreiten tabuisierter Grenzen hat also Auswirkungen für den Rest
unseres Lebens und setzt eine innere Autonomie voraus, die sich sozialen Erwartungen widersetzt. Wir stellen in unserem Stück die These auf, dass mit zunehmender Todesnähe auch die innere Freiheit wächst, da die Furcht vor Konsequenzen sich auf ein Minimum reduziert. Jeder stirbt für sich allein. Wem sollten wir noch Rechenschaft schuldig sein? „
Was bedeutet Tabubruch für euch?
„Theater war und ist seit jeher ein Ort der Tabubrüche. Das soll er sein und bitte auch bleiben. Das bedeutet nicht, dass dort Schockierendes zu sehen sein muss, sondern dass ein gedanklicher Freiraum erhalten bleibt, in dem ein unzensierter Austausch von Meinungen möglich ist. Theater muss nicht gefallen, es muss sich nicht an einem gesellschaftlichen Konsens ausrichten, nicht erfolgs- und nicht profitorientiert sein. Dieses Streben nach inhaltlicher und ästhetischer Autonomie, so unabhängig wie möglich von Erwartungen von außen, das ist an sich noch kein Tabubruch, aber eine Voraussetzung dafür, um die wir ringen. „
Hat Tabubruch auch etwas mit der Gesellschaft zu tun, in der wir leben?
„Tabus haben immer und ausschließlich mit der Gesellschaft zu tun, in der wir leben. Nur von ihr werden sie aufgestellt. Es gibt keine zeitlos gültigen, starren Tabus. Sie sind flexibel und können sogar wechseln, je nachdem in welchem sozialen Zusammenhang wir uns gerade aufhalten. In der eigenen Familie gelten womöglich andere Tabus als im beruflichen Zusammenhang. Wir alle haben ein sehr gutes Gespür dafür, was wir an welchen Orten sagen oder tun können und was wir besser lassen. Wir fühlen uns vermutlich sogar am wohlsten innerhalb von Gruppen, deren „Meidungsgebote“ unsere innere Haltung stabilisieren oder uns nützlich sind. Zugehörigkeit und Abgrenzung schaffen Identität und werden meist durch Tabus definiert. Was unsagbar, undenkbar und nicht machbar ist, das bestimmt die Gesellschaft, mit der wir uns umgeben wollen. Wenn wir es aussprechen, denken oder tun, dann gehören wir nicht länger dazu, sondern zu den anderen. Das ist der Tabubruch. „
Bei dem Pressetext hatte ich die Assoziation mit Goethes Faust, ist eure Figur eine Art Faust, der von Mephisto auf die andere Seite gezogen wird?
„Bei Goethe schließt Faust einen verzweifelten Pakt, um mit allen Mitteln am Leben zu bleiben. Darum geht es in unserem Stück nicht. Der Protagonist in „Die Wellen der Nacht in meinem Gefieder“ hat sein Sterben grundsätzlich akzeptiert, lebt aber in großer Anspannung vor diesem letzten Moment.
Und anders als Mephisto bei Faust legt die zweite Hauptfigur in „Die Wellen der Nacht in meinem Gefieder“ keine Fallstricke aus, versucht nicht zu täuschen, sondern ist vom Augenblick seines Erscheinens an bereit, den Sterbeprozess bis zum Schluss zu begleiten. Für beide ist diese finale Begegnung eine große Herausforderung, zugleich aber auch eine Chance, gedankliche Barrieren zu überwinden und neue Möglichkeitsräume zu öffnen. Die Annäherung ist schwierig, voll Misstrauen, Zweifel und Abscheu, sie gestaltet sich zäh… - während die Uhr gnadenlos tickt. „
Was werde ich als Zuschauer aus dem Stück mitnehmen?
„Während einer Proben-Residenz am EWERK Freiburg hatten wir die Möglichkeit, im Rahmen einer öffentlichen Werkschau mit Publikum ins Gespräch zu kommen. Die Reaktionen waren sehr unterschiedlich, je nach Alter, persönlicher Lebenssituation oder individueller Einstellung zu bestimmten Aspekten des Stücks. Es fanden hochinteressante, generationsübergreifende Gespräche statt, die es ohne diese Aufführung nicht gegeben hätte. So wurde der Abend zu einem offenen Gedanken- und Assoziationsraum, der – laut der Anwesenden – einen bleibenden, intensiven Eindruck hinterlassen konnte. Das wünschen wir uns auch für Köln. „
Das Interview führte Ines Langel, Orangerie Theater.
Die Wellen der Nacht in meinem Gefieder – szenische Collage des movingtheatre Köln
Termine:
- Mi. 15.11., 20h
- Do. 16.11., 20h
- Fr. 17.11., 20h
- Sa. 18.11., 20h
- So. 19.11., 20h
- Do. 14.12., 20h
- Fr. 15.12., 20h
- Sa. 16.12., 20h
Orangerie Theater, Volksgartenstr. 25, 50667 Köln | Tickets erhältlich im VVK: tickets.qultor.de/orangerie-theater | Reservierungen telefonisch unter 0221-952 27 08 & per E-Mail an info@orangerie-theater.de
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